Lee Westwood im Porträt

Lee Westwood ist die Nummer eins der Golf-Welt und das ohne Major-Sieg. Ein Makel? Nicht für sportal.de. Denn der Engländer hat etwas geschafft, was Tiger Woods noch vor sich hat: Nach einer unglaublichen sportlichen Krise kehrte er stärker denn je zurück.
Wenn Lee Westwood heute gefragt wird, ob es nicht frustrierend sei, so oft knapp an einem Major-Sieg vorbeigeschrammt zu sein, dann hat er eine einfache Antwort parat. „Nein ist es nicht. Frustrierend ist es, wenn man nicht weiß, ob der Ball bei einem Schlag nach rechts oder links geht. Aus so einer Situation zurück zu kommen und ein besserer Spieler als jemals zuvor zu sein, das ist sehr viel befriedigender als jeder Sieg“, erklärte der 37-Jährige in einem Interview mit Golf Digest.
Karriere im Eiltempo
Und er weiß nur zu gut, wovon er spricht. Springen wir zurück ans Ende des Jahres 2000. Westwood war auf dem Höhepunkt seiner Karriere, in der es bis dahin nur bergauf gegangen war. Erst mit 13 hatte er angefangen Golf zu spielen, mit 17 gewann er 1990 sein erstes Amateurturnier. 1993 wurde er Profi, ein Jahr später debütierte er auf der European Tour. Seinen ersten Sieg feierte er dort 1996, ein Jahr später triumphierte er mit Europa im Ryder Cup. In diesem Tempo ging es bis 2000 weiter.
Lee Westwood hatte eine fantastische Saison hinter sich. Sieben Turniere gewann er weltweit, sechs davon auf der European Tour. Er war Erster der Geldrangliste (Order of Merit), wurde Spieler des Jahres (zum zweiten Mal nach 1998) und kletterte bis auf Position vier in der Weltrangliste.
Plötzlich geht nichts mehr
Zeit für eine verdiente Pause, zumal seine Frau Laurae erstmals schwanger war. Fünf Wochen lang rührte Westwood keinen Golfschläger an. Im März 2001 kehrte er für drei Turniere zurück. Zwei 17. Plätze und ein verpasster Cut waren die Ausbeute, ehe er erneut zwei Monate aussetzte, da Westwoods Sohn Samuel Bevan auf die Welt kam.
Als er im Mai wieder begann regelmäßig auf der Tour zu spielen, lief nicht mehr viel zusammen. Verpasste Cuts und enttäuschende Platzierungen wechselten sich ab. Für Westwood war das noch kein Grund zur Beunruhigung. In einem Interview mit dem Guardian vor der Saison 2002 erklärte er: „Ich habe davor drei Jahre am Limit gespielt. Erst sieben Turniere gewonnen, dann fünf und schließlich wieder sieben. Im letzten Jahr eben nichts. Vielleicht habe ich den Preis dafür bezahlt.“
Furstriert und demoralisiert
Doch seine Form kam auch 2002 nicht zurück, im Gegenteil. Mit jedem Misserfolg schwand das Selbstvertrauen. In gleichem Maße stieg die Verunsicherung. Liegt es am Schwung? Was stimmt mit der Technik oder dem Schläger nicht? Er probierte vieles aus, in der Hoffnung das irgendetwas hilft. Am Ende passte gar nichts mehr.
Ein Karriereende war in diesen Zeiten wahrscheinlicher als die Hoffnung, irgendwann die Nummer eins der Welt zu sein. „Es gab Momente, in denen ich keine Lust mehr hatte zu trainieren, es wurde einfach nicht besser. Ich habe wirklich sehr hart gearbeitet und keine Fortschritte gemacht. Es war demoralisierend, auf der Range zu stehen und sich nicht weiterzuentwickeln oder sogar noch schlechter zu werden“, schilderte Westwood seine Eindrücke bei Golf Digest.
Letzte Hoffnung Leadbetter
Anfang 2003 packte Lee Westwood seinen Koffer und flog nach Orlando/Florida. Der Schwung-Guru David Leadbetter sollte ihn wieder auf Kurs bringen. Der gilt als einer der besten Golf-Lehrer weltweit und hatte u.a. schon mit den Weltranglistenersten Nick Faldo oder Greg Norman gearbeitet. Die Analyse und das Training zahlten sich schnell aus.
„Schon nach wenigen Tagen habe ich mit meinem Schwung massive Fortschritte gemacht. Das Schwierige ist nur, das auch am ersten Tee abzurufen und das Vertrauen zu haben, diese Verbesserungen von der Range auch in das Spiel auf dem Platz einfließen zu lassen“, beschrieb Westwood diese Tage gegenüber dem Golfchannel.
Es dauerte noch Monate, bis er dem neuen Schwung wirklich traute und diesen auch in gute Ergebnisse umsetzen konnte. In dieser Zeit erreichte Westwood mit Platz 266 in der Weltrangliste den Tiefpunkt in seiner Karriere. Der Durchbruch gelang Ende August 2003 in Deutschland. Bei der BMW International Open in München siegte Westwood erstmals nach fast drei Jahren. Nur vier Wochen später folgte der nächste Triumph bei der Dunhill Links Championship in St. Andrews.
Die Durststrecke war beendet, der Schwung wieder da, doch alle Probleme waren noch nicht gelöst. Die nächsten drei Jahre waren von ordentlichen Ergebnissen geprägt, weitere Siege folgten aber nicht. Woran lag das?
„Ich bin zu dick“
Eine eindeutige Antwort darauf gibt es nicht, aber Lee Westwood fand im Jahr 2006 einen möglichen Ansatz, als er bei einem Turnier auf der Driving Range stand. „Ich sah Tiger (Woods), Ernie (Els), Phil (Mickelson) und Retief (Goosen) an und dachte mir ‚ich bin viel zu dick'“, wird Westwood vom The Independent zitiert.
Seit Beginn seiner Karriere wirkte der Engländer eher rundlich und nicht gerade austrainiert. Laut Welt online sagte Westwood einmal: „Hätte ich Athlet werden wollen, dann wäre ich 400-Meter-Läufer geworden. Ich bin kein Athlet, ich bin Golfer.“
Vor vier Jahren reifte eine andere Erkenntnis. „Der Golfsport hat sich verändert. Die Spieler sind physisch stärker, die Plätze werden anspruchsvoller, wir spielen mehr Turniere, reisen mehr, man muss einfach fitter sein als früher“, zählte er die gestiegenen Ansprüche auf seiner Homepage auf.
Fit mit Hilfe der Wissenschaft
Westwood begann eine Zusammenarbeit mit Dr. Stephen McGregor. Der ist eher Wissenschaftler als Fitnesstrainer und entwarf für Westwood ein individuelles Programm. Dazu gehörten natürlich die Standards wie eine Ernährungsumstellung und Fitnesstraining, darüber hinaus analysierte McGregor Westwoods Schwung in einem Biomechanik-Labor.
Welche Kraft entfaltet er, welche Muskeln werden beansprucht, wie stark ist der Griff usw. All diese Daten wurden ausgewertet um herauszufinden, wie das spezielle Programm aussehen muss, um die Performance des Schwungs zu verbessern.
Inzwischen sind Westwood und McGregor, der u.a. auch für Manchester City arbeitet, seit vier Jahren ein Team. Im The Independent zählte McGregor kürzlich die wichtigsten Veränderungen auf. Demnach hat Westwood nicht nur etliche Kilos, sondern auch 50 Prozent seines Köperfetts verloren. Viel wichtiger sei aber die Tatsache, dass dieses durch Muskelmasse ersetzt wurde. Und zwar ganz gezielt in den Bereichen, wo die Muskeln dem Golfschwung mehr Dynamik verleihen können, ohne die Flexibilität oder Geschmeidigkeit negativ zu beeinflussen.
Der neue Westwood ist konstant gut
Das Ergebnis dieser Veränderungen kann man nicht nur rein optisch bei Lee Westwood erkennen. Drahtig und fit sieht der 37-Jährige heute aus, und das ohne wie ein Asket leben zu müssen. Noch immer gönnt er sich gerne ein Bier oder ein Glas Rotwein.
Noch entscheidender ist aber ein Blick auf seine Ergebnisse. 2007 beendete er mit zwei Turniersiegen nicht nur die zweite Durststrecke seiner Karriere, sondern er spielt seither so konstant auf hohem Niveau wie noch nie. Er gewann zwar nicht so häufig wie zu Beginn seiner Karriere, aber das ist auch der größeren Dichte in der Weltspitze geschuldet. Bei Major-Turnieren landete er zwischen 2008 und 2010 allein fünfmal auf den Rängen zwei und drei.
Lee Westwood scheint die Kurve endgültige bekommen zu haben und wirkt derart gefestigt, dass mit einem abermaligen Einbruch derzeit nicht zu rechnen ist. Die momentane Situation von Tiger Woods ist mit Westwoods Erfahrungen indes nicht zu vergleichen, auch wenn der Amerikaner gerade seine erste Profisaison ohne einen Sieg erlebt hat. Zum einen ist Woods sportlich längst noch nicht so tief gefallen, wie einst der Engländer, zum anderen ist seine sportliche „Misere“ wohl eher auf die Turbulenzen in seinem Privatleben zurück zu zuführen.
Ein bodenständiger Familienmensch
Bei Westwood war das heimische Umfeld dagegen ein Faktor, der ihm wieder auf die Sprünge geholfen hat. Der Engländer ist ein absoluter Familienmensch und gilt als äußerst bodenständig. Mit seiner Frau Laurae, die übrigens die Schwester des ehemaligen schottischen Ryder Cup-Spielers Andrew Coltart ist, hat er inzwischen zwei Kinder.
Er lebt mit seiner Familie immer noch in Worksop in den East Midlands, dort wo er geboren wurde und aufwuchs. Noch heute ruft er einem Bericht von Times online zufolge jeden Tag bei seinen Eltern an, wenn er unterwegs ist. In diesem Jahr spielte er erstmals auf der US Tour, doch das wird er nicht wiederholen, da das FedEx-Cup-Finale in die Ferienzeit seiner Kinder fällt. Diese gemeinsame Zeit wolle er nicht noch einmal verpassen, erklärte er und gab seine Tourkarte zurück.
Jeans und Kapuzenpulli
Westwood lebt auf einem alten Gestüt, wo er auch am liebsten trainiert. Vor rund zehn Jahren hat er Land dazugekauft und hinter seinem Haus eine eigene Driving Range errichtet. Er ist Fan von Nottingham Forest und liebt es, sich mit seinen alten Freunden zu treffen.
Sein langjähriger Freund und Manager Andrew ‚Chubby‘ Chandler beschreibt Westwood in der Times wie folgt: „Warum sollte er woanders hinziehen? Er hätte dann nicht seine Freunde um sich. Er ist ein Typ, der zum 40. Geburtstag des Mechanikers aus der örtlichen Garage geht. Er möchte am liebsten anonym bleiben. Darren Clarke (ein ehemaliger Weltklassegolfer und Freund von Westwood) macht sich die Haare, zieht einen Anzug und einen Kaschmir-Mantel an, wenn er zum Fußball geht. Lee geht in Jeans und Kapuzenpulli und wenn ihn keiner erkennt, dann ist er glücklich.“
“Westwood rettete meine Karriere“
Mit seiner Art hat es Lee Westwood zu einem beliebten Spieler auf der Tour gebracht. Und mit seiner Erfahrung aus zahlreichen Rückschlägen auch zum gefragten Ratgeber. So berichtete Michael Campbell Anfang des Jahres in der Onlineausgabe des Daily Record, dass Westwood seine Karriere gerettet habe.
Ausschlaggebend war ein Gespräch der beiden in einer Sauna am Rande des Qatar Masters. 25 Minuten lang unterhielten sie sich über ihre Erfahrungen und den Umgang mit Misserfolgen. Westwood erzählte, wie er sich durch Rückbesinnung auf die Basics selbst wieder freispielen konnte.
Am Ende hatte Campbell neuen Mut gefasst, um ohne Druck noch einmal einen neuen Anlauf zu nehmen. Ironischerweise hat er genau das schon erreicht, was Westwood in den Augen vieler Experten noch fehlt, um ein ganz Großer zu sein. 2005 gewann Campbell mit der US Open einen begehrten Major-Titel. Für ihn war es ein Fluch, denn seither läuft bei ihm nichts mehr. In diesem Jahr verpasste er bei 19 Turnieren 16 Mal den Cut, in der letzten Weltrangliste rangierte er an Position 1109.
Genau das ist der Grund, warum Lee Westwood ein wahrer Champion ist. Ihm ist es gelungen, viele Rückschläge zu verkraften und daraus gestärkt hervorzugehen. Beweisen muss er nach 32 Turniersiegen als Profi und fünf Ryder Cup-Titeln niemandem mehr etwas.
„Es geht nicht nur darum, Major-Turniere zu gewinnen. Sonst hätten wir nach jedem Major eine neue Nummer eins. Es geht um Konstanz über einen bestimmten Zeitraum. Das ist der Grund, warum ich jetzt gerade da oben stehe. Sich hinzusetzen und sagen zu können, ich bin derzeit der beste Golfer auf diesem Planeten, ist der befriedigendste Moment in meiner Karriere“, erklärte Westwood dazu gegenüber europeantour.com. Trotzdem drückt sportal.de ihm beim nächsten Major in der Überzeugung die Daumen, dass sein Lebensglück nicht von einem Sieg abhängt.
Lars Ahrens